In einem ehemaligen Fabrikgebäude im Berliner Wedding: „Herzlich Willkommen“, schmettert Nils Dreyer in den Raum und schenkt den rund 40 Anwesenden ein breites Lächeln. Neugierig blickt das Publikum auf den blonden Mittvierziger, der mit Zopf und rotem Schal vor ihnen steht, und erst mal im Schnelldurchgang den eigenen Werdegang Revue passieren lässt: Mehrere Start-ups gegründet, bei einem davon einen behinderten Mitarbeiter eingestellt und im Laufe der Zeit viel über Inklusion gelernt. Dann Verkauf der Anteile und 2014 Gründung der gemeinnützigen gGmbH Hilfswerft in Bremen. Dessen aktuell wichtigstes Projekt: Die Initiative Inkluprenuer, die Inklusion und Entrepreneurship verbindet. Dann sind die Leute dran, die in drei langen Reihen vor Dreyer sitzen. Die Teilnehmenden des zweitägigen Startercamps sollen sich und ihre Unternehmen vorstellen und dabei auch sagen, wo und wie sie bereits mit behinderten Menschen zu tun hatten.
Wo geht’s hier bitte zur Inklusion?
Schnell stellt sich heraus, wie gemischt die Gruppe ist: Eine Frau hat sich erst kürzlich mit einer innovativen Form des Caterings selbstständig gemacht, eine andere mit dem Verleih von Lastenrädern. Es ist aber auch ein Team der Auto1 Group dabei, einem börsennotierten Unternehmen mit europaweit 6 000 Mitarbeitenden, sowie eines vom Berliner Standort des Bekleidungsriesen Uniqlo. Unter den Teilnehmenden sind Unternehmer*innen, Führungskräfte und Mitarbeitende. Unterschiedlich auch die Erfahrungen im Umgang mit behinderten Menschen: Einige haben Kontakt in der Familie oder im Bekanntenkreis, die meisten geben jedoch ein bisschen verlegen zu, bislang noch keine Berührungspunkte gehabt zu haben. Trotz der Unterschiede eint die Teilnehmer*innen eines: Sie alle möchten ein inklusives Arbeitsumfeld schaffen und Menschen mit Behinderung (MmB) einstellen.
Wer weiterkommen will braucht Fachwissen
Doch wie kreiert man attraktive inklusive Arbeitsplätze? Und was ist beim Employer Branding zu beachten? Ohne das entsprechende Wissen und Unterstützung lassen sich diese Fragen kaum beantworten. Beim Startercamp in Berlin beschäftigen sich die Teilnehmenden mit dem Thema Inklusion und entwickeln gemeinsam mit den Coaches und Mentor*innen von Inklupreneur erste Ideen für eine eigene Inklusions-Strategie. Die zwei Tage sind nur der Auftakt zu einem intensiven Programm, das insgesamt über neun Monate läuft. Die Teilnahme ist für die Unternehmen kostenlos, das Projekt finanziert sich aus Mitteln des Berliner Landesamts für Gesundheit und Soziales und des Europäischen Sozialfonds. Um teilzunehmen, mussten die Betriebe einen pledge unterzeichnen – eine Absichtserklärung, bis 2024 eine bestimmte Anzahl von inklusiven Stellen zu schaffen.
Ein Angebot (nicht nur) für Start-ups
Das Programm Inklupreneur besteht seit Anfang 2021. Mehr als 100 Firmen haben den pledge bereits unterzeichnet, über 500 Stellen sollen entstehen. Rund 120 davon wurden bereits geschaffen, ein Drittel auch schon besetzt. „Wir richten uns vor allem an Start-ups und Grown-ups, also Unternehmen, die der Start-up-Phase gerade entwachsen sind, weil diese die bestehenden Angebote der Agentur für Arbeit und der Inklusionsämter meist nicht nutzen“, erläutert Projektleiter Dreyer. „Mein Vorteil ist, dass ich die Perspektive der Gründer*innen durch meine eigene Biografie gut kenne.“ Gleichzeitig seien aber auch bereits etablierte Unternehmen herzlich eingeladen. In Bremen nimmt zum Beispiel gerade ein Malerbetrieb teil, der demnächst sein 100-jähriges Bestehen feiert. Dreyer: „Vielerorts bringt jetzt eine jüngere Generation frischen Wind in die Betriebe, so auch dort: Dem neuen Chef ist das Thema Inklusion sehr wichtig – aus gesellschaftlichen Gründen, aber auch, weil er die Chance sieht, auf diesem Weg neue Arbeitskräfte zu finden.“
Auch KMU sollten das Thema Inklusion auf dem Schirm haben
Es tut sich etwas und das ist gut so, denn gerade KMU scheuten in der Vergangenheit oft aus Angst oder Unwissenheit vor dem Thema Inklusion zurück. Das zeigen auch die Zahlen: Seit 2001 müssen Betriebe mit mehr als 20 Mitarbeitenden fünf Prozent ihrer Stellen mit Personen mit Behinderung besetzen oder eine staatliche Ausgleichsabgabe zahlen. Von den rund 170 000 Betrieben in Deutschland, die unter diese Regelung fallen, beschäftigt fast ein Drittel keinen einzigen behinderten Menschen – und unter diesen sind vor allem KMU. Dabei sind die Kosten nicht unerheblich: Wer nicht mal zwei Prozent beschäftigt, muss pro fehlendem Arbeitsplatz monatlich 360 Euro zahlen. Bei einem Betrieb mit 500 Mitarbeitenden kommen so im Jahr mehr als 100 000 Euro zusammen. „Das Geld, das in die Abgabe fließt, ließe sich natürlich im Unternehmen sinnvoll anderweitig einsetzen“, gibt Klaus Weigeldt, Personalchef des Berliner Mittelständlers kfzteile24, zu Bedenken. Dieses Argument, so seine Erfahrung, bringe auch Führungskräfte zum Nachdenken, die sich mit dem Thema noch nicht näher befasst hätten und ihm eher skeptisch gegenüberstünden.
„Verantwortung übernehmen und Gutes tun“
Die kfzteile24 GmbH entstand 2001 und beschäftigt mittlerweile rund 600 Mitarbeitende aus mehr als 40 Nationen. Damit ist sie eine der größten Firmen, die den Coaching-Prozess von Inklupreneur bislang durchlaufen haben. „Wir sind keine Firma, die aus Altruismus handeln kann“ erklärt Weigeldt. „Am Ende des Tages sind wir ein Wirtschaftsunternehmen, das Zahlen liefern muss. Aber wir spüren die Verantwortung und wollen Gutes tun“. Viele der Mitarbeitenden stünden voll und ganz hinter dem Inklusionsthema, weil sie die Teilhabe von MmB gesellschaftlich wichtig und erstrebenswert fänden. Gleichzeitig müsse man aber auch realistisch sein: „Es gibt immer auch Menschen mit Vorurteilen und es gibt Führungskräfte, die Zweifel daran haben ihre einzige freie Stelle an einen Menschen mit Schwerbehinderung zu vergeben, gerade in der Logistik oder in den Werkstätten. Solche Diskussionen sind nicht immer leicht, bringen uns als Unternehmen aber weiter.“ Ihm persönlich habe der Coaching-Prozess geholfen, bei dem Thema „selbstbewusster und selbstverständlicher“ zu agieren.
Ein großes Problem: Die fehlenden Bewerbungen
20 Stellen möchte die kfzteile24 GmbH bis 2024 mit MmB besetzen, fünf Personen mit Behinderung wurden bislang eingestellt. „Wir hätten gerne schon jetzt mehr,“ sagt Weigeldt mit Bedauern in der Stimme, „aber leider fehlte es bislang an geeigneten Bewerbungen.“ Anderen geht es ähnlich, wie zum Beispiel dem Start-up share, das vom Müsliriegel bis zur Handcreme viele verschiedene Produkte vertreibt und für jedes verkaufte Exemplar einige Cent an Hilfsorganisationen spendet. „Wir haben zusammen mit unserem Coach unter anderem die Webseite auf Barrierefreiheit geprüft, Stellenanzeigen umformuliert und mit verschiedenen Mentor*innen Bewerbungsgespräche simuliert. Einige davon sind blind oder gehörlos, andere haben eine Lernschwäche oder gehören dem autistischen Spektrum an“, erzählt Katharina Nadj, Talent Acquisition Managerin bei share. „Diese Begegnungen haben uns sehr geholfen, durch den gemeinsamen Austausch Hemmungen abzubauen.“ Nur an Bewerber*innen fehle es noch, aber sie sei optimistisch, dass diese bald kämen.
Brücke über dem Abgrund
„Auf der einen Seite haben wir Unternehmen, die gerne MmB einstellen wollen, auf der anderen Seite MmB mit top Qualifikationen. Und dazwischen gähnt ein Abgrund“, seufzt Özlem Cetin und fügt hinzu: „Inklupreneur soll die Brücke sein, auf der sich beide treffen.“ Die Bremerin ist Projektleiterin und Coach bei Inklupreneur und hat selbst eine Erb-Lähmung. Nach dem Studium machte sie im In- und Ausland Karriere. „Mein Weg war trotzdem nicht leicht“, sagt Cetin im Rückblick. Die Radiojournalistin Amy Zayed ist ebenfalls als Coach im Einsatz. „Ich möchte MmB Erfahrungen ersparen, wie ich sie selbst machen musste“, erklärt sie. „Bei Bewerbungen spielte meine Blindheit leider immer eine große Rolle, meine Qualifikationen aber waren egal.“ In besonderer Erinnerung blieb ihr der Chef eines Lokalsenders, der mit der Hand vor ihrem Gesicht herumwedelte und fragte: „Können Sie das sehen?“ Oder die Programmdirektorin, die ihr trotz Studium und journalistischer Ausbildung eine Stelle anbot, bei der sie Musik in einen Rechner einspeisen sollte.
Ein Ergebnis des Startercamps: Der Blick weitet sich
Zurück beim Startercamp. Die Teilnehmer*innen haben inzwischen Vorträge gehört, einen fiktiven Blogbeitrag für die Zukunft geschrieben, in dem sie sich an ihre ersten Schritte zu mehr Inklusion „erinnern“, und ihre Coaches kennengelernt. Die Stimmung ist heiter und produktiv. Während sich die anderen in kleinen Gruppen unterhalten, packt Maren Rabe noch schnell die letzten Kisten aus. Sie stellt mit ihrer Firma Pott Cuisine das Mittagessen. „Wir sind noch am Anfang, wollen aber Inklusion von vornherein mitdenken“, erklärt sie, während sie Gläser mit Salaten und Nudelgerichten auf Tische stapelt. „Das ist für mich eine generelle Haltungsfrage.“ Einige Wochen später sagt Rabe im Rückblick „Ich fand es total motivierend zu sehen, dass andere Unternehmen sich auch mit dem Thema beschäftigen.“ Welche Erfahrung sie noch mitgenommen hat? „Naja, wir hatten ja unsere Potts dabei – klassische Pfandgläser, wie man sie aus dem Supermarkt kennt. Die Idee ist, dass unser Essen direkt daraus verzehrt wird. Aber eine der Mentor*innen war dazu aus körperlichen Gründen nicht in der Lage.“ Das habe sie zum Nachdenken gebracht. Rabe: „Diese Erweiterung des Blickes ist ein großes Geschenk.“