Spätestens seit Corona gilt: In vielen Branchen und Betrieben wird Flexibilität bei Arbeitszeit und Arbeitsort längst erfolgreich umgesetzt. Anders sieht es häufig noch in der Produktion aus. Da sich die Maschinen vor Ort befinden, müssen sie besetzt sein, wenn sie produzieren sollen. Mehr noch: Arbeit im Zwei- oder Drei-Schicht-System ist die Regel, damit die Fertigung möglichst wenig oder gar nicht stillsteht. Schichtarbeit verlangt von den Mitarbeiter*innen daher ein erhebliches Maß an Flexibilität und geht zudem mit einer Reihe gesundheitlicher Belastungen einher. Doch der zunehmende Wunsch vieler Beschäftigter nach besserer Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch in der Produktion zwingt Betriebe, bei der Schichtarbeit neue Wege zu gehen. Zwei Beispiele aus der Praxis zeigen, wie das gelingen kann – ob im Kleinbetrieb oder Großkonzern.
Warum die Bäckerei Leonhardt ihre Schichtarbeit flexibilisiert hat
Die Bäckerei Leonhardt im baden-württembergischen Bretten: Anstatt in festen Nachtschichten wird hier mehrmals am Tag frisch gebacken. Damit reagiert die Bäckerei nicht nur auf Kundenwünsche, sondern auch auf die Bedürfnisse der Beschäftigten. Denn wie viele andere Betriebe hatte die Bäckerei Schwierigkeiten, neue Auszubildende für die Produktion zu finden. Unattraktive Arbeitszeiten bei einer Sechs-Tage-Woche, regelmäßige Überstunden und zu kurze Regenerationsphasen waren gesundheitlich belastend. Mit einer modernen Schichtdienstgestaltung gelang es dem Unternehmen, seine Beschäftigten zu entlasten und die Arbeitgeberattraktivität zu steigern.
Flexibles Schichtsystem in der Bäckerei Leonhardt: Diese Schritte führten zum Erfolg
Am Anfang stand die Entscheidung, auf eine Fünf-Tage-Woche umzuschwenken. Nach externer Beratung, mehrmaligen Optimierungsschleifen sowie Rücksprachen mit der Belegschaft entstand ein flexibles System, in dem gestaffelte Schichten und freie Tage kontinuierlich abgewechselt und wöchentlich neu geplant werden. Mitarbeitende in der Produktion und das Verkaufspersonal können so den Arbeitsbeginn innerhalb einer Woche frei gestalten. Bei der Wochenplanung dürfen und sollen sich die Mitarbeitenden beteiligen. Bedarfe und Engpässe werden abgefragt, die Beschäftigten können jederzeit Wünsche äußern. Das System basiert auf einer wertschätzenden Betriebskultur: frühzeitige Kommunikation, Rücksichtnahme und die Bereitschaft, sich gegenseitig zu vertreten. Um die Beschäftigten mit den Veränderungen vertraut zu machen, hat die Geschäftsführung sie außerdem von Beginn an mit ins Boot geholt und in halbjährlichen Betriebsversammlungen und Mitarbeitertreffen über alle Schritte informiert.
INQA Toolbox: Flexibles Schichtsystem
In flexiblen Schichtsystemen sind die Beschäftigten nicht an feste, wiederkehrende Arbeitsblöcke gebunden (z. B. Sechs-Tage-Woche mit nur Frühschichten), sondern können ihre Arbeitszeiten und den Arbeitsbeginn innerhalb einer Woche staffeln. Vorwärts rotierende Schichtsysteme sind am besten geeignet, die gesundheitlichen Auswirkungen der Schichtwechsel besser zu meistern. Vorwärts heißt: Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht.
Pilotprojekt bei Volkswagen: Diese Instrumente helfen bei der Flexibilisierung der Schichtarbeit
Und wie lässt sich flexibles Arbeiten in der Fertigung eines Konzerns umsetzen? Genau das erprobt die Volkswagen AG seit Sommer 2018. Begleitet wird sie von der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft Berlin e.V. (EAF Berlin), da flexiblere Schichten auch die Aufstiegschancen von Frauen verbessern sollen. Zudem wird das Projekt gefördert durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und den Europäischen Sozialfonds. Die Erprobung hat dabei eine Reihe wertvoller Erkenntnisse und hilfreicher Instrumente hervorgebracht.
Anstatt neue und noch unfertige Lösungen gleich konzernweit auszurollen, wurden diese zunächst im Pilotbetrieb getestet: In ausgewählten Abteilungen konnten die Beschäftigten ihre Bedürfnisse für eine vereinbarkeitsfreundliche Arbeitszeitgestaltung einbringen.
Ausgewählte Themen zur Flexibilisierung wurden in Arbeitsgruppen bearbeitet, z. B. die Frage des richtigen Einsatzes von Teilzeitkräften im Schichtbetrieb oder die Möglichkeiten mobilen Arbeitens in den direkten Bereichen.
Um die Belegschaft bei den Neuerungen mitzunehmen, fanden begleitend Fortbildungsmaßnahmen wie Workshops und Trainings für Führungskräfte, Beschäftigte und Multiplikator*innen statt.
Alle ziehen an einem Strang: Während des gesamten Projekts sind das Management, der Betriebsrat, das Personal- und das Gesundheitswesen sowie die Führungskräfte und Mitarbeitenden aus der Produktion unmittelbar eingebunden.
Mithilfe von strukturierten Leitfragen wurde ermittelt, wann die Mitarbeitenden gar nicht arbeiten können und wann mit gewissem Vorlauf. So können Personalengpässe überwunden werden, da qualifizierte Teilzeitbeschäftigte bei vorausschauender Planung auch ganze Schichten übernehmen.
Stundenweises mobiles Arbeiten im Fertigungsbereich ist möglich: Wenn Aufgaben wie Online-Schulungen, Seminarvorbereitungen oder administrative Tätigkeiten von zu Hause erledigt werden können, gewinnen Mitarbeitende mehr Flexibilität.
Die Flexibilisierung lang etablierter Systeme kann auch zu Ängsten und Gegenwehr bei Beschäftigten führen. In einer offenen Sprechstunde können diese ihre Bedenken gegenüber ihren Führungskräften äußern – und abbauen.
Es hat sich bewährt, einzelne Beschäftigte gezielt als Botschafter*innen innerhalb ihres Teams einzusetzen. Es erzeugt eine bessere Resonanz, wenn Kolleg*innen untereinander für mehr Flexibilität werben, als wenn dies Vorgesetzte oder die Personalabteilung tun.