Darf ich Kolleg*innen von meinem Privatleben erzählen? Soll ich Familienfotos zeigen? Kann ich ein Coming-out am Arbeitsplatz wagen, ohne negative Reaktionen fürchten zu müssen? Diese Fragen treiben viele LSBTIQ*--lesbische, schwule, bisexuelle, trans*- und intergeschlechtliche sowie queere Menschen-Beschäftigte um – denn häufig sind Kolleg*innen und Vorgesetzte von heteronormativen Vorstellungen geprägt. Und oft genug hängt von ihren Reaktionen nicht nur das Wohlbefinden am Arbeitsplatz, sondern auch die berufliche Zukunft ab.
Zwar hat sich die rechtliche Lage von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten in den letzten Jahrzehnten deutlich gebessert. So verbietet das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) seit 2006 Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität und des Geschlechts. Seit Ende 2018 haben inter*-Menschen in Deutschland die Möglichkeit, sich als „divers“ zu bezeichnen. Die Einführung der dritten positiven Geschlechtsbezeichnung stärkt die Rechte von Personen, die sich weder als männlich noch als weiblich identifizieren.
Doch trotzdem machen homo- und bisexuelle, nichtbinäre sowie trans*-Personen immer wieder Diskriminierungserfahrungen im Berufsalltag. Eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zeigt, dass 30 Prozent der LSBTIQ*-Beschäftigten mit Ausgrenzung im Arbeitsleben konfrontiert werden. Bei trans*-Menschen sind es sogar mehr als 40 Prozent. Der ständige Stress, der mit Diskriminierung einhergeht, kostet viel Kraft und Ressourcen. Viele Menschen entscheiden sich deshalb, den Arbeitsplatz oder die Branche zu wechseln. Was können Unternehmen und Institutionen tun, um die Beschäftigten zu binden und ein sicheres und offenes Umfeld zu schaffen?
Zivilgesellschaftliche Initiativen helfen, für Diversität zu sensibilisieren
Der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) engagiert sich seit Jahren dafür, die Sichtbarkeit von lesbischen, schwulen und bisexuellen Lebensweisen sowie von Trans- und Intergeschlechtlichkeit zu stärken und sie als Teil gesellschaftlicher Normalität zu etablieren. Gezielte Aktionstage wie der Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transfeindlichkeit (IDAHOBIT) und die Teilnahme an Paraden wie dem Christopher Street Day (CSD) dienen dazu, die Öffentlichkeit und die Belegschaft für die Belange der LSBTIQ*-Personen zu sensibilisieren.
Strategien für Unternehmen und Institutionen
Aber es gibt auch konkrete Maßnahmen, wie Unternehmen und Verwaltungen eigenständig gegen Vorurteile, Mobbing und LSBTIQ*-Feindlichkeit am Arbeitsplatz vorgehen können, sagt Markus Ulrich vom Lesben- und Schwulenverband (LSVD): „Erster Schritt ist, nicht einfach davon auszugehen, dass alle Mitarbeitenden heterosexuell beziehungsweise cis-geschlechtlich sind, sich also mit dem von außen zugeschriebenen Geschlecht identifizieren.“
Diese weiteren Schritte können laut dem LSVD in der Praxis umgesetzt werden:
- als Unternehmensleitung ein klares Zeichen für Inklusion und Vielfalt setzen und Antidiskriminierungsrichtlinien formulieren
- die Unternehmenskommunikation (Newsletter, Social Media, Stellenanzeigen) inklusiv gestalten und unterschiedliche sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identitäten proaktiv ansprechen
- Führungskräfte, Mitarbeitende sowie Betriebs- und Personalrät*innen in Schulungen spezifisch für Vielfalt und LSBTIQ*-Belange sensibilisieren
- Strategien entwickeln, die Menschen nach ihrem trans*-Coming-out unterstützen (neue Arbeitskleidung, Namensschilder, E-Mail-Adressen und Visitenkarten bereits vor der rechtlichen Anerkennung der Geschlechtsidentität)
- Mitarbeiter*innen-Initiativen und Netzwerke fördern
- Anlaufstellen im Unternehmen etablieren, die auf Diskriminierungsfälle oder Mobbing reagieren
Wie können Unternehmen und Institutionen konkret vorgehen, um solche Strategien im Arbeitsalltag umzusetzen?
Großunternehmen: die Führungsebene einbeziehen
Großunternehmen wie etwa die Deutsche Bahn oder der Konsumgüterhersteller Beiersdorf bemühen sich, für diverse Mitarbeitende attraktiver zu werden. „Unsere Vielfalt macht uns stärker“, erläutert dazu die Deutsche Bahn-Konzern-Kampagne „Einziganders“. Um die Community im Alltag zu unterstützen, arbeitet die Unternehmensleitung eng mit dem internen LGBTIQ*-Mitarbeitenden-Netzwerk „railbow“ zusammen und setzt gemeinsame Veranstaltungen und Maßnahmen um. Ähnlich geht auch der Konsumgüterhersteller Beiersdorf vor: 2019 hat das Unternehmen das Netzwerk „Be You @Beiersdorf“ speziell für LSBTIQ*-Mitarbeitende gegründet. Zu den Gründer*innen des Netzwerkes gehören auch Manager*innen oberer Führungsebenen, die offen ihre LSBTIQ*-Identität leben. Diese Vorbildfunktion helfe dabei, die LSBTIQ*-Gemeinschaft innerhalb des Unternehmens zu etablieren, heißt es dazu aus dem Konzern. Auch bei der Deutschen Bahn werden Führungskräfte aktiv durch interne Kommunikationsmaßnahmen für das Thema sensibilisiert. Beide Unternehmen organisieren zudem auch externe Seminare und Schulungen, zum Beispiel mit der Stiftung Prout@Work, um Mitarbeitende bei ihrem Coming-out am Arbeitsplatz zu unterstützen.
Verwaltungen: Vielfalt nach außen transportieren und nach innen leben
In der täglichen Arbeit des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) sind Chancengerechtigkeit und Inklusion wichtige Themen. Eine vielfältige Belegschaft bereichert. Gegenseitiger Respekt und die Wertschätzung jedes Einzelnen sind unabdingbare Voraussetzung, weiß Anja Breitbart, Leiterin des Personalentwicklungsreferates im BMAS. „Unser Ziel ist es, eine vorurteilsfreie und respektvolle Umgebung zu schaffen, in der sich alle Beschäftigten wohlfühlen und so akzeptiert werden, wie sie sind. “Die Vielfalt der Menschen im BMAS umfasst auch unterschiedliche sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identität. Engagierte Mitarbeiter*innen betreuen ein BMAS-eigenes LSBTIQ*-Netzwerk. Das Netzwerk ist Anlaufstelle für alle Beschäftigten, wenn es um LSBTIQ*- und Diversity-Fragen im Arbeitsalltag geht. Es unterstützt die Verwaltung und die Interessenvertretungen im Umgang mit diesen Fragen und bei der Umsetzung der Diversity-Maßnahmen im Ministerium. Oskar Lederer ist einer von sechs Ansprechpartner*innen des 2019 gegründeten Netzwerkes. „Es ist wichtig, die Vielfalt sexueller Orientierungen sichtbar zu machen und Vorurteile oder Hürden zur Persönlichkeitsentfaltung zu erkennen und abzubauen.“ Anlässlich des IDAHOBIT möchte das Netzwerk mit einer Postkarten-Aktion für Sichtbarkeit sorgen. Darüber hinaus soll neben der Beratung und Unterstützung der LSBTIQ*-Mitarbeiter*innen ein eigenen Mentor*innen-Programm aufgebaut werden. Anlässlich des Diversity-Tages am 18. Mai bietet das BMAS Sensibilisierungsseminare für Beschäftigte und Führungskräfte an. Für die Etablierung eines dauerhaften Diversity-Managements und eine vielfältigere Ansprache von neuem Personal gehen Ministerium und Netzwerk gemeinsame Schritte.
Auch kommunale Verwaltungen wollen ein deutliches Signal gegen Homophobie und Transfeindlichkeit in den eigenen Reihen und in der breiten Gesellschaft setzen. Die Stadt Stuttgart hat dazu zum Beispiel einen interdisziplinären Arbeitskreis etabliert, der mit Vertreter*innen der städtischen Verwaltungsbereiche sowie Personen aus der örtlichen LSBTIQ*-Community besetzt ist. Dort werden die Belange der Community besprochen und gemeinsame Lösungsmöglichkeiten entwickelt. Dazu gehören zum Beispiel die Planung eines kommunalen Regenbogenhauses sowie spezifische Beratungsangebote für LSBTIQ*-Personen. Durch interne Schulungen, aber auch in Schulen, Kitas, Bäderbetrieben sowie in der Pflegeausbildung will die Stadtverwaltung für das Thema sensibilisieren. Wichtig ist auch hier: Die Verwaltungsspitze beziehungsweise der Gemeinderat muss in die Strategie einbezogen werden. Damit auch kleine Verwaltungen ins Handeln kommen, kann es zudem sinnvoll sein, sich mit anderen Kommunen zu vernetzen, um voneinander lernen zu können, empfiehlt Dr. Ursula Matschke, Leiterin der Abteilung für Chancengleichheit und Diversity bei der Stadt Stuttgart: „Keine Theorie, keine abstrakten Abhandlungen – es ist das praktische Tun, das andere überzeugt.“
Kleine und mittlere Unternehmen: konzentriert statt allumfassend
Einen notwendigen Rahmen für den offenen, angst- und diskriminierungsfreien Arbeitsplatz in kleinen und mittleren Unternehmen können Antidiskriminierungsrichtlinien schaffen. „Sie geben Sicherheit, denn Mitarbeitende können sich darauf berufen“, weiß Markus Ulrich. Und schließlich könne solch ein Leitbild der Nichtdiskriminierung oder Offenheit bei Stellenanzeigen, Bewerbungsgesprächen und in Mitarbeiterschulungen offensiv angesprochen werden.
Und welche Strategien sind geeignet? Hier gilt: nicht alles auf einmal. „Wichtig ist es, Möglichkeiten und Perspektiven von kleinen und mittleren Unternehmen zu berücksichtigen“, empfiehlt Dr. Sandra Hartig, Gründerin des Mitarbeitenden-Netzwerkes #GemeinsamWirSein der IHK-Organisation. Kleine und mittlere Betriebe könnten sich in erster Linie auf ausgewählte Aspekte konzentrieren, statt das Thema Diversität in der ganzen Komplexität angehen zu wollen. Beim Thema LSBTIQ* sei ein offenes ermutigendes Umfeld das A und O, um Menschen unterschiedlichster sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität im Unternehmen zu unterstützen.
Für einen Informationsaustausch können sich Interessierte an die LSBTIQ*-Netzwerke wenden oder sich bestehenden Netzwerken wie dem ver.di-Bundesarbeitskreis Regenbogen LSBTTIQ anschließen.
Wie klein die ersten Schritte auch sein mögen, entscheidend ist das Ziel: dass Beschäftigte sich an ihrem Arbeitsplatz und in ihrem Arbeitsumfeld sicher und wertgeschätzt fühlen. Vielfalt muss in der Unternehmenskultur nicht nur wachsen, sondern auch gelebt werden. „Immer mehr Menschen registrieren sehr genau, für welche Werte ein Unternehmen steht und wie glaubwürdig es sich dann auch dafür einsetzt. Aber es geht auch um gesellschaftliche Verantwortung und ein Klima, das Vielfalt als Bereicherung erkennt und wertschätzt. Davon profitieren letztlich wir alle“, ist Markus Ulrich überzeugt.