Georg Schomerus erforscht, wie unsere Gesellschaft mit psychisch erkrankten Menschen umgeht. Im Interview spricht der Professor und Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Leipzig darüber, welche Tabus und Lösungen es gibt.
Sie erforschen seit vielen Jahren die Einstellungen in unserer Gesellschaft zu psychische Erkrankungen. In den Medien taucht das Thema seit einigen Jahren sehr häufig auf. Sind psychische Krankheiten heute überhaupt noch mit einem Tabu belegt?
Man kann heute zum Glück offener über die eigene psychische Krankheit sprechen. Aber das gilt nicht für jede psychische Krankheit, und vor allem längst nicht für alle Situationen, in denen es wichtig wäre. Über eine Depression lässt sich zum Beispiel leichter reden als über ein Suchtproblem oder eine Schizophrenie, besonders, wenn man den Modebegriff ‚Burnout‘ verwendet. Während es im Freundeskreis oft leichter ist, offene Worte zu finden, ist es am Arbeitsplatz häufig sehr schwer. Nach wie vor machen Menschen mit psychischen Erkrankungen häufig negative Erfahrungen mit den Reaktionen ihres Umfelds.
Wie lässt sich der Umgang mit psychischen Krankheiten überhaupt messen?
Da gibt es viele Möglichkeiten, die sich idealerweise ergänzen, um ein vollständiges Bild zu erhalten. Zum Beispiel kann man mit Menschen sprechen, die Erfahrungen mit psychischer Krankheit und Stigmatisierung gemacht haben. Solche qualitativen Studien geben wichtige Hinweise, wo ein Problem auftritt und wie es sich äußert. Auf der anderen Seite kann man in großen, repräsentativen Stichproben die Bevölkerung nach ihren Haltungen befragen, um herauszufinden, welches Bild von psychischer Krankheit in der Allgemeinbevölkerung eigentlich vorherrscht. Häufig wird bspw. nach der Bereitschaft gefragt, mit einer Person, die zum Beispiel eine Depression hat, in bestimmten Situationen Kontakt zu haben, etwa als Kolleg*in bei der Arbeit.
Welche Folgen hat die Tabuisierung für die Betroffenen?
Die schwerwiegendsten Folgen sind verstärkte Symptomlast bis hin zu vermehrter Suizidalität. Aber auch die Inanspruchnahme von Hilfe wird erschwert, weil nicht über das Problem gesprochen werden kann. Die Tabuisierung verhindert auch positive Reaktionen des Umfelds. Es wäre schließlich viel mehr Unterstützung möglich, wenn man offen über psychische Krisen sprechen könnte.
Außerdem: Angst vor Stigmatisierung, Sorge vor Überforderung, Geheimhaltung und damit keine Möglichkeit, Arbeitsbelastungen anzupassen oder Unterstützung am Arbeitsplatz zu erhalten.
Und welche Folgen hat die Tabuisierung für Nicht-Betroffene? Zum Beispiel am Arbeitsplatz?
Auf Seiten der Kolleg*innen und Vorgesetzten besteht oft Unsicherheit und Misstrauen. Nicht selten entstehen Fantasien und Gerüchte und oft auch ein Gefühl von Hilflosigkeit, weil man nicht konkret auf eine Situation reagieren kann.
Welches sind die größten Missverständnisse rund um das Thema psychische Erkrankung?
Das größte Missverständnis ist, dass es ‚die anderen‘ sind, die psychisch krank werden. Psychische Krankheiten sind sehr häufig, es kann jede und jeden von uns treffen. Einzelne Krankheitssymptome sind, in unterschiedlichen Schweregraden, sogar extrem häufig. Wir alle erleben einmal Dinge, die auch im Rahmen einer psychischen Krankheit auftreten können. Schlafstörungen zum Beispiel, oder Freudlosigkeit. Es ist eher eine Frage des Schweregrads, der Häufung von Symptomen und der Dauer dieser. Wir sprechen von einem Kontinuum psychischer Gesundheit und Krankheit.
Vorurteile sitzen oft tief. Woran merke ich, dass ich selbst welche habe?
Ich glaube, am stärksten merkt man es, wenn man selbst eine psychische Krise hat. Kann ich mir das eingestehen? Kann ich darüber sprechen? Kann ich selbst Hilfe in Anspruch nehmen?
Wie haben sich die Vorurteile Ihrer Meinung nach über die Jahre verändert?
Das ist für verschiedene Krankheitsbilder unterschiedlich. Eine Depression löst heute weniger negative Emotionen aus als früher, stattdessen weckt sie stärkere Hilfsbereitschaft. Eine Schizophrenie macht dagegen heute sogar noch mehr Angst als vor dreißig Jahren. Suchtkrankheiten sind nach wie vor am stärksten stigmatisiert. Hier steht das Stigma auch der frühzeitigen Inanspruchnahme von Hilfe extrem im Weg.
Haben Sie eine Prognose? Wird es irgendwann genauso akzeptiert sein, sich wegen psychischer Erschöpfung drei Tage zu erholen wie bei einer Erkältung?
Drei Tage wegen einer Krankheit zu fehlen, ist schon heute kein Problem mehr. Wichtiger wäre, dass man in Zeiten psychischer Krankheit seine Arbeitsbelastung länger reduzieren kann, ohne ganz auszusetzen – Arbeit ist schließlich ein unschätzbarer Gesundheitsfaktor. Zum Beispiel in Form einer Teilkrankschreibung. Oder, nach einer schweren psychischen Krankheit, eine Rehabilitation in den Betrieben, am Arbeitsplatz mit individueller Unterstützung. Ich glaube, da haben wir viele Möglichkeiten, und ich bin sehr optimistisch, dass wir sowohl den Umgang mit psychischer Krankheit wie auch den Schutz der psychischen Gesundheit entscheidend verbessern werden. Schließlich ist das eine Sache, von der alle profitieren werden.