Die Fachkräftesicherung und der demografische Wandel sind zentrale Herausforderungen der Nordthüringer Wirtschaft. Eine Antwort darauf ist eine flächendeckende praxisnahe Berufsorientierung in Unternehmen, um Ausbildungsplätze mit jungen Menschen aus der Region zu besetzen.
Dafür haben das Schulamt, die Agentur für Arbeit Thüringen-Nord sowie die regionale IHK und die Kreishandwerkerschaften in der Region gemeinsam das Projekt „Tag in der Praxis“ (TiP) ins Leben gerufen und setzen die Maßnahme seit 2022 in einem Netzwerk mit allen relevanten Akteuren um. Inspiriert wurde das Modell unter anderem von betrieblichen Praxisphasen im Schulunterricht in der ehemaligen DDR wie den sogenannten „Unterrichtstagen in der Produktion“.
Im Rahmen von „Tag in der Praxis“ verbringen Schüler*innen von Regelschulen, einer weiterführenden Schulform im Freistaat Thüringen, an denen wahlweise ein Hauptschul- oder ein Realschulabschluss erworben wird, ein Jahr lang wöchentlich einen Praxistag in einem Betrieb. Der Betrieb wird nach den Schulferien gewechselt, sodass die Schüler*innen bis zu vier Unternehmen und Berufe kennenlernen.
Dabei machen die Schüler*innen auch praktische Erfahrungen rund um den Prozess des Einstiegs in das Berufsleben: Sie bewerben sich bei den Betrieben, führen Vorstellungsgespräche und erleben dabei Erfolge und Niederlagen.
Was 2022 mit drei Pilotschulen begann, hat binnen kurzer Zeit Schule gemacht – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn mit 28 Regelschulen sind mittlerweile 60 Prozent der Regelschulen in Nordthüringen am „Tag in der Praxis“ beteiligt.
Schüler*innen, Betriebe und die Region profitieren
Aktuell nehmen rund 1.400 Schüler*innen und mehr als 900 Betriebe am „Tag in der Praxis“ teil – für die Macher*innen des Projekts eine Win-win-win-Situation, von der alle Beteiligten profitieren:
Die Schüler*innen erhalten eine realistische Berufsorientierung: Welche Aufgaben und Arbeitsroutinen bietet der Beruf? Mit welchen Menschen werde ich zusammenarbeiten? Passen die Aufgaben zu mir? Was möchte ich auf keinen Fall machen? All diese Fragen werden in den dreimonatigen Praktika meist zügig geklärt. Der gesamte Bewerbungsprozess und das Auswahlverfahren verschiedener Betriebe – vom Anschreiben, über die Kommunikation mit Personalverantwortlichen bis hin zum Kennenlerngespräch – werden mehrfach durchlaufen und so ganz praktisch erlernt. „Wir wollen mehr abgeschlossene Ausbildungsverträge und weniger Ausbildungsabbrüche. Dafür müssen die jungen Leute genauer wissen, in welchen Betrieb sie gehen und welchen Beruf sie erlernen“, so Karsten Froböse, der Leiter der Agentur für Arbeit Nordthüringen und einer der Initiator*innen von „Tag in der Praxis“.
Die teilnehmenden Unternehmen haben die Möglichkeit, sich als attraktive Ausbildungsbetriebe zu präsentieren. Mit einem Steckbrief, der alle wichtigen Informationen, zum Beispiel zur Branche oder Unternehmenskultur, enthält, stellen sie sich bei den Schüler*innen vor. Während des Praktikums lernt der Betrieb die potenziellen Auszubildenden frühzeitig, unkompliziert und ressourcenschonend kennen: „Viele Betriebe, die zunächst vorsichtig waren, sind nun auch dabei, denn der Tag in der Praxis bedeutet eine extreme Kostensenkung. Die Unternehmen müssen zum Beispiel nicht mit jeder einzelnen Schule eine Vereinbarung treffen. Wir als Verbund organisieren alles und das Unternehmen muss nur sagen: Ich mach mit“, erklärt Karsten Froböse.
Mit dem „Tag in der Praxis“ wurde in Nordthüringen ein Erfolgsmodell für die Berufsorientierung und Fachkräftesicherung geschaffen: Junge Menschen bleiben zunehmend für ihre Berufsbildung in der Region. „Wir haben in der Vergangenheit sehr viele junge Leute an andere Regionen verloren. Deshalb ist es uns wichtig, dass die Schüler*innen heute wissen, was in den Betrieben hier vor Ort Gutes gemacht wird und welche Chancen sie hier haben“, sagt Karsten Froböse. Erste Erfolgszahlen bestätigen das Projekt: So konnten beispielsweise im Landkreis Eichsfeld im Jahr 2023 5,9 Prozent und im Landkreis Nordhausen sogar 17,2 Prozent mehr Ausbildungsverträge bei der IHK als im Vorjahr abgeschlossen werden. 2024 konnte die Zahl der betrieblichen Ausbildungsverträge in den Regionen trotz der konjunkturellen Lage stabil gehalten werden.
Alle ziehen an einem Strang
Dabei werden die Schüler*innen vor und während der Praxistage intensiv begleitet. Die Jugendlichen reflektieren ihre praktischen Erfahrungen regelmäßig im Schulunterricht, auch die Berufsberatung der Arbeitsagentur unterstützt dabei, dass die Berufs- und Ausbildungsplatzwahl bewusster und informierter erfolgt.
Gelingen kann das nur im Schulterschluss und durch die Kooperation aller relevanten Akteure, betont Karsten Froböse. Schulamt, Arbeitsagentur und Wirtschaft arbeiten beim „Tag in der Praxis“ eng zusammen – und auch die Politik zieht mit. Im Sommer 2024 wurde die Thüringer Landesstrategie zur Berufsorientierung geändert, sodass nun eine flächendeckende Einführung von „Tag in der Praxis“ möglich ist.
Infolgedessen wurde das Konzept mittlerweile auch in Ostthüringen und Teilen Südwestthüringens eingeführt. Auch sollen in Thüringen künftig Gymnasien beim „Tag in der Praxis“ teilnehmen können.
Dass das Modell auch außerhalb Thüringens erfolgreich sein kann, daran haben die Initiator*innen keine Zweifel. Zumal sie ihre gesammelten Erfahrungen allen Interessierten zur Verfügung stellen – in einem eigens für den Transfer entwickelten Projekthandbuch.
Das Projekt „Tag in der Praxis“ ist in der Kategorie „Innovatives Netzwerk“ für den Deutschen Fachkräftepreis 2025 nominiert.