Vielfalt gehört schon seit längerem fest in den Arbeitsweltkontext, bezieht sich oftmals auf kulturelle Unterschiede bei Mitarbeitenden und Kundinnen und Kunden. Das Bewusstsein für die zahlreichen Unterschiede im Wissens- und Erfahrungsschatz von Menschen sowie der respektvolle Umgang damit sind wichtig. Es reicht nicht aus, die Charta der Vielfalt zu unterschreiben und sich um kulturelle Anerkennung zu bemühen. Es braucht echte Veränderung an den Arbeitsstrukturen und ein Bewusstsein für intersektionale soziale Ungleichheiten. Denn oft sind Menschen nicht einfach nur verschieden, sondern auch ungleich – zum Beispiel in Einkommen, Vermögen, sozialer Vernetzung, (Weiter-) Bildungsmöglichkeiten. Chancengleichheit lässt sich nur herstellen, wenn die unterschiedlichen Startbedingungen der Beschäftigten und auch die Unterschiede innerhalb sozialer Gruppen berücksichtigt werden.
Intersektionalität im Unternehmenskontext
Der Gedanke der Intersektionalität hat seinen Ursprung in der US-amerikanischen Frauenbewegung der 1970er Jahre. Als diese in den USA im 20. Jahrhundert mehr und mehr an Bedeutung gewann, stellten viele afroamerikanische Frauen fest, dass sie sich von ihr nicht vertreten fühlten. Zwar erfuhren auch sie aufgrund ihres Geschlechts Benachteiligung, daneben hatten sie jedoch mit vielen weiteren Problemen zu kämpfen, wie zum Beispiel dem Alltagsrassismus oder prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen. In der Welt der weißen Mittelschichtsfrauen, welche die Bewegung dominierten, spielten diese Faktoren jedoch keine Rolle. Später waren es dann vor allem Lesben of Color und Schwarze trans* Frauen, welche die Kritik aufnahmen und vorantrieben. Sie rückten die Existenz von sich gegenseitig verstärkenden Macht- und Herrschaftssystemen in den Fokus und fragten danach, wie Patriarchat, Kapitalismus und Kolonialismus zusammenwirken.
Arbeitsorganisationen sind „gesellschaftliche Integrationsmaschinen“
Rund 40 Jahre später ist die Überschneidung von Diskriminierungsformen wie Klassismus, Sexismus, Rassismus und Bodyismus ein wichtiges Thema in der Geschlechter- und Diversitätsforschung und sollte auch, so die Arbeitssoziologin Julia Gruhlich, ein fester Bestandteil von Diversitätsmanagement sein. Denn, so Gruhlich weiter, „Arbeitsorganisationen in modernen Gesellschaften übernehmen die Rolle gesellschaftlicher ‚Integrationsmaschinen‘. Mit der Arbeitsplatzvergabe entscheiden sie über die Verteilung gesellschaftlich wichtiger Ressourcen wie Gehalt, Wissen und Macht, weisen Anerkennung und Status zu, stiften Identität, Sinn und sozialen Zusammenhalt“.
Vor diesem Hintergrund sind intersektionale Ungleichheiten natürlich ein Problem und zeigen sich zum Beispiel darin, dass Arbeitsbereiche und -positionen häufig nach Geschlecht und race oder Migration besetzt werden. „Migrantische oder Schwarze weibliche Führungskräfte müssen Sie in Deutschland schon mit der Lupe suchen. Auch werden die Berufe, die als ‚weiblich‘ gelten und oder nicht-weiß markiert sind, häufig deutlich schlechter bezahlt“, gibt Gruhlich zu Bedenken. „Bisher werden diese Ungleichheiten entweder ignoriert oder mit dem Verweis auf kulturelle Differenz und das individuelle Leistungsvermögen legitimiert. Da finden sich dann allerlei sexistische und rassistische Stereotype wie beispielsweise osteuropäische weibliche Pflegekräfte seien einfach viel hingebungsvoller und weniger anspruchsvoll, mit denen dann schlechte Arbeitsbedingungen gerechtfertigt werden“.
Mehr Sensibilität und Bewusstsein
Mit Blick auf den globalisierten Arbeitsmarkt und Fachkräfteengpässe in vielen Branchen und Regionen sei es heute wichtiger denn je, dass sich Betriebe selbst auf den Prüfstand stellen: „Unternehmen sollten sich mit der Frage auseinandersetzen, wen sie als mögliches Personal ansprechen können – und was sie bieten müssen, um für diese Gruppen ein attraktiver Arbeitgeber zu sein“, erklärt Gruhlich im Gespräch mit INQA.de. Ziel seien gute Arbeitsbedingungen für alle, unabhängig von Alter, Herkunft, Geschlecht, Aussehen, sexueller Orientierung oder körperlichen Einschränkungen.
Nicht nur der vielfach spürbare Fachkräftemangel sorgt für Veränderungsdruck, sondern auch eine neue gesellschaftliche Sensibilität für das Thema Diversität – und ein neues Bewusstsein bei Bewerbenden. „Als Schwarze hochqualifizierte Frau würde ich mir durchaus überlegen, ob ich in einem Unternehmen arbeiten möchte, das weiß und männlich dominiert ist, und dessen Führung sich anscheinend weder Gedanken darüber gemacht hat, wie es im Betrieb um Rassismus steht, noch wie eine gerechte Bezahlung für alle Geschlechter garantiert werden kann“, sagt Gruhlich.
Ein weiteres Beispiel: Frauen mit Behinderung
Es reicht für Unternehmen nicht mehr aus, nur ein einzelnes Merkmal von Vielfalt in den Blick zu nehmen. Das zeigt auch die Integration von Menschen mit Behinderung, ein weiteres Beispiel für Intersektionalität: „Frauen mit Handicaps haben es in der Regel noch schwerer, einen Job zu finden, als behinderte Männer“, erklärt Anne Gersdorff, Referentin für Arbeit bei der Initiative Sozialheld*innen e.V. Ende 2021 in einem INQA-Gespräch. Nachlesen lassen sich die Zahlen in einer Studie von Aktion Mensch. Von Gewalt am Arbeitsplatz seien Frauen mit Behinderung wiederum häufiger betroffen als andere Frauen, fügt Gersdorff hinzu.
Die Lösung: Fragen stellen und sensibilisiert formulieren
Julia Gruhlich rät Unternehmen, die vielfältiger werden und das neue Personal dann auch halten möchten, sich erst einmal viele Fragen zu stellen: „Wie viele schwule und lesbische Führungskräfte haben wir und wie ist unsere Arbeitskultur diesbezüglich? Wie steht es um Diskriminierungen nach Hautfarbe, Nationalität oder Migrationsgeschichte? Und was würde eine angemessene Antwort darauf sein? Reicht es wirklich aus, einmal im Jahr ein interkulturelles Fest zu machen? Oder brauchen wir nicht ganz andere Maßnahmen? Wer verdient eigentlich wie viel bei uns? Sollten wir die Löhne nicht angleichen? Und vielleicht müssen wir auch die Arbeitsstrukturen verändern, damit Eltern nicht von Karrieren ausgeschlossen sind? Wie steht es um ältere Beschäftigte, um Menschen, die nur noch eingeschränkt arbeiten können oder um Mitarbeitende mit Behinderung?“
Beim Thema Einstellungen rät sie dazu, nicht einfach nur männlich/ weiblich/ divers hinter den Namen der Position zu schreiben, sondern beim Formulieren der Tätigkeitsbeschreibungen und Eigenschaften genau zu überlegen. „Oft enthalten Stellenausschreibungen Begriffe, die eindeutig auf ein Geschlecht hinweisen. Steht dort zum Beispiel ‚durchsetzungsstark‘ schreckt das viele Frauen ab. Wird das jedoch mit ‚kommunikationsfähig‘ ergänzt, entsteht ein ganz anderer Eindruck.“
Chancen für KMU
Während viele große Unternehmen die Situation längst erkannt haben und ganze Abteilungen mit Expertinnen und Experten für das Diversitätsmanagement unterhalten, ist für viele KMU die Beschäftigung mit dem Thema noch relativ neu. „Kleinere und mittlere Unternehmen sollten prüfen, ob sie nicht eine professionelle Anlaufstelle dafür schaffen können, die dieses Thema zur Hauptaufgabe hat“, empfiehlt Gruhlich. „Falls das nicht möglich ist: Vielleicht interessiert sich jemand aus dem bestehenden Personal dafür und kann sich entsprechend weiterbilden.“ Zusätzlich sollten die Diversity-Beauftragten in den Unternehmen jedoch auch Freiräume bekommen, um sich der neuen Aufgabe wirklich annehmen zu können. „Und natürlich“, so Gruhlich, „sollte dieser Person dann auch Gehör geschenkt werden.“