Menschen mit Behinderungen sind in der Gesellschaft häufig benachteiligt. Der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung, der jährlich und weltweit am 3. Dezember stattfindet, soll darauf aufmerksam machen. Die Vereinten Nationen haben ihn im Jahr 1992 ins Leben gerufen. Das Ziel: öffentlich daran erinnern, dass menschliche Würde, persönliche Rechte sowie Wohlergehen für jeden Menschen gelten. Dazu gehört die Inklusion behinderter und schwerbehinderter Menschen, d. h. ihre Teilhabe in allen gesellschaftlichen Aspekten – auch am Arbeitsleben.
Als Folge der Corona-Krise zeigt sich: Menschen mit Behinderungen haben es auf dem deutschen Arbeitsmarkt aktuell besonders schwer. Das Inklusionsbarometer Arbeit 2021 – eine Studie, die Aktion Mensch beim Handelsblatt Research Institute in Auftrag gegeben hat – hat ermittelt: Die Anzahl der arbeitslosen Menschen mit Behinderungen ist um acht Prozent höher als vor der Pandemie und damit auf dem höchsten Stand seit 2016. Ob eine Ausbildung oder eine reguläre Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt: Das Recht behinderter Menschen auf Teilhabe am Arbeitsleben wird so nicht vollumfänglich umgesetzt.
Inklusion auf dem Arbeitsmarkt verbessern: Aufholbedarf bei der Barrierefreiheit
Besonders alarmierend daran: Da der Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen erfahrungsgemäß weniger dynamisch ist, werden sie deutlich länger von den Negativfolgen der Corona-Pandemie betroffen sein als Menschen ohne Behinderungen. Dadurch steigt die Gefahr von Langzeitarbeitslosigkeit – auch unabhängig von der Pandemie ist das ein gravierendes Problem. Woran liegt das? Und vor allem: Wie lassen sich die Chancen für Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt verbessern?
Nachfrage bei Jürgen Dusel, der sich als Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen einsetzt. Für Dusel spielen strukturelle Ursachen eine Rolle: Damit Betroffene ihr volles Potenzial entfalten können, benötigen sie barrierefreie Angebote. Das bedeutet, etwas ist leicht und einfach für alle Menschen zugänglich – egal ob Gebäude, Verkehrsmittel oder der Arbeitsplatz. Bei diesem Thema habe Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern Aufholbedarf. „Wir müssen erkennen: Barrierefreiheit hat nicht nur eine soziale Dimension, sondern ist ein Qualitätsstandard für ein modernes Land.“ Den coronabedingten Digitalisierungsschub sieht Dusel ambivalent: Einerseits sei es gut, dass die Arbeitswelt flexibler geworden ist. „Menschen, die mobilitätseingeschränkt sind, können davon profitieren.“ Andererseits gelte auch bei digitalen Kommunikations- und Arbeitsmitteln: die Angebote müssen barrierefrei sein. Zudem dürfe die Digitalisierung nicht dazu führen, dass vor allem Schwerbehinderte dauerhaft ins Homeoffice verbannt werden: „Die Menschen benötigen Interaktion im Betrieb und der Dienststelle, damit sie nicht vereinsamen.“
Teilhabe beginnt im Kopf: Warum es einen Bewusstseinswandel braucht
Noch entscheidender als mangelnde Infrastruktur ist für Jürgen Dusel aber ein anderes Problem – und das beginnt im Kopf. So seien es die vielen Vorurteile, die Arbeitgeber*innen davon abhalten, Menschen mit Behinderungen einzustellen. Die drei gängigsten sind, dass sie häufiger krank und generell weniger leistungsfähig seien als andere Beschäftigte und nur schwer zu kündigen. Alle drei Vorurteile, versichert Dusel, würden regelmäßig widerlegt. Vielmehr mache es für Arbeitgeber*innen auch „aus betriebswirtschaftlichen Gründen“ Sinn, sich dieser Gruppe zuzuwenden – vor allem in Zeiten des Fachkräftemangels. So seien unter den Arbeitslosen Menschen mit Behinderungen häufig besser qualifiziert als andere Arbeitssuchende: „Eine Win-Win-Situation“, erklärt Dusel. Die Praxis zeigt, dass Unternehmen, die das Thema Inklusion gezielt angehen, damit auch erfolgreich sind.
Förderung nutzen: gesetzliche Verbesserungen für mehr Teilhabe
Damit noch mehr Betriebe diese Chance auch erkennen, braucht es politische Unterstützung. Denn die Aufklärungsarbeit der Bundesregierung zeigt: Unternehmer*innen fehlen häufig konkrete Kenntnisse zu Fördermöglichkeiten, Beratungsdiensten und Unterstützungsleistungen für eine gelungene Inklusion. Zwar gibt es seit vielen Jahren Inklusionsberatungen, Integrationsfachdienste oder den Technischen Beratungsdienst – doch der Zugang dazu ist noch recht schwierig. Das soll sich ändern. So wurde im April 2021 das Teilhabestärkungsgesetz beschlossen: Demnach müssen seit 2022 in Deutschland einheitliche Ansprechstellen für Arbeitgeber*innen geschaffen werden. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen möchte der Gesetzgeber unterstützen, behinderte Menschen und schwerbehinderte Menschen auszubilden und einzustellen. Insbesondere können die einheitlichen Ansprechstellen ihnen die Laufarbeit zu potenziellen Leistungsträgern abnehmen.
Inklusion leben: Vorurteilen von klein auf keine Chance geben
Doch das größte Potenzial, um Menschen mit Behinderungen gut in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sieht Jürgen Dusel weder in betriebswirtschaftlichen Berechnungen noch in vereinfachten Unterstützungsleistungen, sondern bereits in der Kindheit. „Kinder sollten gemeinsam groß werden und voneinander lernen“, fordert er. Wie sich das langfristig auswirkt? Dusel selbst ist das beste Beispiel: „Ich bin fast vollständig blind und habe auf einer Regelschule Abitur gemacht. Meine Mitschüler*innen wussten zwar, dass man mit mir nicht gut Fußball spielen kann, aber sie kannten jemanden mit Behinderung, der sein Abi geschafft hat.“ Eine Erfahrung, die offenbar nachhaltig prägte. So habe der überwiegende Teil der Mitschüler*innen, die später Personalverantwortung übernommen haben, auch selbst Menschen mit Behinderungen eingestellt. „Weil sie gelernt haben, dass Menschen mit Behinderungen keine defizitären Wesen sind“, resümiert Dusel.