Frau Cetin, Menschen mit Behinderung und Unternehmen finden nur selten zusammen. Was sind Hürden beim Thema Inklusion?
Es beginnt schon damit, dass sich viele Menschen mit Behinderung (MmB) von klassischen Stellenanzeigen nicht angesprochen fühlen, weil sie daraus nicht herauslesen können, dass ihre Bewerbung erwünscht ist. Hürde Nummer zwei für viele Bewerber*innen: Die Webseiten sind nicht barrierefrei. Mal angenommen, jemand findet eine Stelle interessant und möchte mehr über das Unternehmen erfahren. So weit, so gut. Aber was, wenn diese Person dann die Texte auf der Webseite nicht lesen kann, weil sich die Schriftgröße nicht einstellen lässt? Digitale Teilhabe sollte kein Privileg sein – wenn ein Unternehmen mehr MmB aufnehmen möchte, dann muss es für diese auch zugänglich sein.
Und mit welchen Hürden haben Betriebe zu kämpfen?
Der Klassiker ist diese Situation: Die Leitung möchte das Unternehmen inklusiver aufstellen, weiß aber nicht, wo und wie sie anfangen soll. Wie erreicht man zum Beispiel Bewerber*innen mit Behinderung? Oder was ist bei einem Bewerbungsgespräch zu beachten? Eine Situation, die auch häufig vorkommt: Ein Betrieb stellt eine Person mit Behinderung ein, vergisst jedoch, das Team zu sensibilisieren. Und dann wundern sich die Teammitglieder: Warum guckt die oder der Neue weg oder wirkt sehr distanziert, wenn wir mit ihr oder ihm reden? Und schon sind die Leute unsicher und man ist in einer Schieflage. Die größte Hürde in unserer Gesellschaft ist aus meiner Sicht, dass die meisten Menschen in ihrem Leben keinen oder kaum Kontakt mit MmB haben. Und das führt zu Unwissen, Unsicherheit und Ängsten.
Wie können Unternehmen überprüfen, wie weit sie auf dem Weg zur Inklusion schon sind?
Zunächst sollte man schauen, wie viele MmB man schon beschäftigt. Es gibt Betriebe, die haben sich nie wirklich Gedanken über Inklusion gemacht, und trotzdem haben dort drei von fünf Mitarbeiter*innen eine Beeinträchtigung. Da scheint also einiges richtig zu laufen. Und dann gibt es Unternehmen mit 120 Beschäftigten, die haben sich das Thema Diversity auf die Fahnen geschrieben und bieten zum Beispiel eine Frauenquote und haben eine sehr aktive LGBTQIA+-Community – aber nicht eine*n Beschäftigte*n mit Beeinträchtigung in ihren Reihen. Im Coachingprozess schauen wir dann gemeinsam, woran das liegt und wie wir das ändern können.
Wo setzen Sie an?
Bei Inklupreneur [Red.: Mehr zu der Initiative lesen Sie auch hier: Das Projekt Inklupreneur macht KMU fit für Inklusion] zeigen wir ihnen, welche verschiedenen Möglichkeiten es gibt und entwickeln zusammen eine individuelle Inklusionsstrategie. Letztlich muss das Unternehmen selbst entscheiden, welcher Weg passt. Und dann kann die Reise beginnen: Wir gestalten gemeinsam ein Template, damit alle Stellenangebote inklusiv werden oder kreieren mit Hilfe von Job Carving [Red.: Aus der Zusammenstellung von Einzeltätigkeiten wird ein neues, für einen Menschen mit Behinderung geeignetes Stellenprofil geschaffen] neue Jobs. Wir betrachten die Webseite hinsichtlich möglicher Barrieren, bringen die Unternehmen mit Expert*innen, unseren Mentor*innen und Institutionen in Kontakt, simulieren Bewerbungsgespräche und führen Workshops mit dem Team durch, um Berührungsängste abzubauen. Insgesamt umfasst das Coaching sechs Säulen und geht über neun Monate. Am wichtigsten ist es, dass wir auf dieser spannenden Reise stets die Einblicke, Erfahrungen und Expertise der MmB durch unsere 25 Mentor*innen mit einfließen lassen – nur so kann es erfolgreich werden.
Welche drei Erkenntnisse nehmen alle Unternehmen mit?
Erstens verstehen sie, dass Inklusion eigentlich gar nicht so schwierig ist, man muss sich nur trauen. Viele fragen sich auch, warum sie mit dem Thema nicht schon viel früher begonnen haben. Zweitens: Jedes Unternehmen kann inklusive Arbeitsplätze schaffen. Viele denken beim Thema Inklusion jedoch erstmal an Rollstuhlfahrer*innen und verweisen dann darauf, dass ihre Büroräume nicht barrierefrei sind. Dabei gibt es viele verschiedene Formen von Beeinträchtigungen und nur wenige MmB sind in ihrer Mobilität eingeschränkt. Und ein ganz wichtiges Aha-Erlebnis: Viele staunen, wenn sie hören, dass nur drei Prozent ihre Behinderung bei der Geburt erworben haben. Alle anderen Beeinträchtigungen sind durch Unfälle oder Krankheiten entstanden. Es kann also jede und jeden treffen. Auch darum ist es im Interesse unserer Gesellschaft, dass Inklusion selbstverständlich ist.
Zur Person:
Als Leiterin und Coachin des Projekts „Inklupreneur“ der Bremer Hilfswerft gGmbH berät und begleitet Özlem Cetin Unternehmen auf ihrem Weg zur Inklusion. Zuvor war sie als Projektleiterin und HR-Spezialistin in verschiedenen Branchen und Ländern tätig. Die zweifache Mutter kam selbst mit einer Schwerbehinderung zur Welt.
7 Tipps von Özlem Cetin: So wird Ihr Unternehmen inklusiver
Setzen Sie sich im Unternehmen mit bestehenden Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderung (MmB) auseinander. Disability Awareness Workshops helfen, sich dieser bewusst zu werden und ihnen entgegenzuwirken.
Sensibilisieren und schulen Sie Ihr Personalwesen im Hinblick auf Bewerbungsgespräche mit MmB, denn es gibt verschiedene Dinge zu berücksichtigen.
Achten Sie auf Barrierefreiheit im Netz! Die Webseite ihres Unternehmens sollte für MmB zugänglich sein.
Vielleicht beschäftigen Sie längst MmB ohne es zu wissen. Schaffen Sie ein Umfeld, in dem Ihre Mitarbeiter*innen das Gefühl haben, offen sprechen zu können. Viele Menschen, die eine Beeinträchtigung haben, behalten diese Information aus Angst vor Diskriminierung für sich.
Ermöglichen Sie Ausbildungsplätze für MmB, auch wenn Ihr Unternehmen kein Ausbildungsbetrieb ist. Es gibt verschiedene inklusive Ausbildungsmodelle, zu denen Sie bei den Berufsbildungswerken Informationen erhalten.